Die Hansmann-Chronik
Die Entwicklung vom Dorf zum Stadtteil
In den letzten hundert Jahren wuchs die Bevölkerung Gliesmarodes stark an. Waren es 1847 noch 197 Einwohner, wurden es bis 1891 533 Bewohner, 19051171, 19332329 und 1977 7180 Einwohner. Bis vor gut 100 Jahren war Gliesmarode nur von der Landwirtschaft geprägt, aber in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts setzte eine Entwicklung ein, die ein beachtliches Ansteigen der Bevölkerungszahl, der Verkehrsmittel und der gewerblichen Unternehmungen mit sich brachte.
Nach der altmärkischen Straße verband die Eisenbahn Gliesmarode mit der großen weiten Welt. 1894 entstand der Bahnhof Gliesmarode an der Strecke Braunschweig-Gifhorn, der auch heute noch in Betrieb ist. 1902 wurde die Braunschweig-Schöninger Eisenbahn eröffnet, sie hatte zwei Bahnhöfe im Gliesmaroder Gebiet, die zuletzt Braunschweig-Nordost und Gliesmarode-Ost hießen. Fast 70 Jahre fuhr das "Bimmel-Ludchen" auf dieser Strecke. Als sie sich nicht mehr rentierte, wurde diese Bahnlinie 1971 völlig eingestellt. Als vierter Bahnhof entstand 1904 der Bahnhof der Landeseisenbahn nach Fallersleben mit der Bezeichnung "Braunschweig-Ost", der für den Personenverkehr inzwischen auch geschlossen ist. Die Bahnstrecke selber ist in hohem Maße ausgelastet vor allem durch den Güterverkehr vom und zum Volkswagenwerk Wolfsburg.
Eine weitere Verkehrserschließung kam für Gliesmarode mit der Straßenbahn. Kurz nachdem am 28.10.1897 die erste elektrische Straßenbahn in Braunschweig gefahren war, wurde am 11. Dezember desselben Jahres die Straßenbahnlinie Westbahnhof-Gliesmarode eröffnet, die ursprünglich "die rote Linie" hieß, jetzt aber seit Jahrzehnten "die Drei". Ursprünglich fuhr sie nur bis zur Eisenbahn, dann wurde sie Stück für Stück verlängert. 1948 wurde sie von der Firma Voigtländer auf deren Kosten bis zum Betriebsgelände erweitert und in den letzten Jahren auf eigenem Gleiskörper bis nach Volkmarode gebaut.
Karl Bothe, der als Straßenbahnfahrer noch auf dem offenen Perron der Bahn fuhr, erzählte, wie gemütlich das früher zuging, als der Verkehr noch nicht so stark war wie heute. Jedesmal wenn er mit der Bahn in Gliesmarode angekommen war, ging er mit dem Schaffner einen Schnaps trinken, der damals 5 Pfennige kostete. Trunkenheit am Steuer? Nur einmal wäre er am Hagenmarkt zu forsch in die Kurve gegangen, die Straßenbahn sei aus den Schienen gesprungen und hätte der Apotheke am Hagenmarkt einen Besuch abgestattet.
Mit dem Wachstum der Bevölkerung entstand eine größere Anzahl von Kaufläden mit Lebensmitteln, Textilien, Drogerien, Blumen, Elektroartikeln usw., von denen inzwischen vor allem die sogenannten "Tante Emma"-Läden durch das große Warenhaus hinter dem Voigtländergelände eingegangen sind.
Daneben gab es viele Handwerksbetriebe: Schlachter, Bäcker, Schmied und Stellmacher, Schuhmacher und Schneider, Bauunternehmungen, Tischler, Elektriker, Klempner, Maler und Dekorateure, die zumeist auch heute ihren festen Platz behaupten.
Von den größeren Unternehmungen, die es in Gliesmarode einst gab, existieren viele heute nicht mehr. Da gab es um 1900 die Ziegelei Franz Eduard Meyer, auf deren Gelände heute Wohnungen stehen. Verschwunden ist auch die Betonwarenfabrik Kuhlmann, die seit 1883 an der Querumer Straße existierte, und jetzt mit Wohnhäusern bebaut wird.
Wenn die Berliner Straße weiter ausgebaut wird, werden auch die letzten Gebäude verschwinden, in denen einst die Fleischwarenfabrik Struck und Witte und davor die Großschlachterei Denecke und Himmel untergebracht waren. Nach dem Herrn Himmel wurde auch die Siedlung benannt, die diese Schlachterei für ihre Arbeiter und Angestellten im Gebiet Kurzekampstraße/Mittelriede baute: das Himmelreich. Für Orientierte ist es also eine Kleinigkeit, ins Himmelreich zu kommen!
Eingegangen ist auch das älteste Unternehmen Gliesmarodes, die Mühle, die um 1900 herum als "Dampfhandelsmühle Gliesmarode" eine große Bedeutung hatte.
Am schlimmsten hat die Gliesmaröder der Verlust des größten Industriebetriebes in Gliesmarode betroffen. Das war die Firma Voigtländer, die zeitweise über 2000 Beschäftigte hatte, zu denen viele Einwohner Gliesmarodes gehörten. Diese Firma - 1756 von dem Feinmechaniker Johann Christoph Voigtländer in Wien gegründet - wurde 1849 nach Braunschweig verlegt auf Wunsch der damaligen Ehefrau des Firmeninhabers, die eine gebürtige Braunschweigerin war. Nachdem der Betrieb in der Campestraße zu klein geworden war, wurde nach dem ersten Weltkrieg ein neuer Betrieb in Gliesmarode gebaut. Die optischen Geräte hatten einen weltweiten Ruf.
Bei der Gliesmaroder Jugend hatten auch die unbrauchbaren Gläser der Firma einen guten Ruf, die in eine dem Werk gegenüber liegende Tonkuhle geworfen wurden. Die Gläser ließen sich so herrlich als Brenngläser verwenden. Und zwei böse Buben, die heute ehrbare Mitbürger Gliesmarodes sind, haben mit einem solchen Brennglas durch die Schaufensterscheibe eines Geschäftes hindurch eine Silvesterrakete entzündet. Es gab einen großen Knall und der Porzellanschaden war erheblich, aber die Übeltäter waren natürlich längst auf und davon, ehe sie gefaßt werden konnten. Auch so bewahrheitete sich der Werbeslogan "Voigtländer, weil das Objektiv so gut ist".
Über 200 Jahre hat die Firma bestanden. Nachdem sie aber in Schwierigkeiten geriet und sie auch eine Übernahme in den Zeißkonzern nicht retten konnte, wurde der Betrieb 1972 geschlossen. Was danach kam, hatte nicht mehr die Bedeutung der ehemaligen Firma. Vorbei die Zeit, als Gliesmarode morgens und nachmittags bevölkert wurde von den vielen Mitarbeitern, die zu Fuß, mit dem Rad oder Auto und vor allem in überfüllten Straßenbahnen kamen.
Schon vor dem ersten Weltkrieg wurde im Jahre 1904 ein anderes bedeutendes Unternehmen in Gliesmarode gegründet: das Librawerk. Wegen der zentralen Lage im damaligen Deutschen Reich und den guten Verkehrsanbindungen bauten der Kaufmann Ferdinand Pelz und der Ingenieur Carl Nagel in "Gliesmarode bei Braunschweig" ihre Fabrik zur Fertigung von Waagen und Meßinstrumenten. Durch die rechtzeitige Umstellung auf elektronische Bauelemente und die Erweiterung des Programms in ganze Verpackungslinien hat das Werk auch heute einen weltweiten Ruf. 180 Mitarbeiter, darunter viele aus Gliesmarode, sind dort beschäftigt.
Noch mehr Mitarbeiter - nämlich 280 - verdienen ihr täglich Brot bei der Fa. Fricke und Nacke, die seit 1935 in Gliesmarode ansässig ist. Dosen, Dosen - nicht nur praktisches Verpackungsmaterial, sondern vor allem die hübschen Schmuckdosen finden bei der Bevölkerung Beachtung.
Ein Unternehmen anderer Art, aber auch mit beachtlicher Mitarbeiterzahl ist die Biologische Bundesanstalt, die nach dem 2. Weltkrieg am Messeweg aufgebaut wurde. Dort sind etwa 170 Menschen beschäftigt, und es wird immer noch gebaut und gebaut.
Nach den Angaben des Amtes für Statistik der Stadt Braunschweig gab es am 1. 1. 1978 in den Zählbezirken Gliesmarode und Pappelberg 208 Betriebe mit insgesamt 3.290 Beschäftigten, wobei die Zahlen noch etwas höher liegen können, weil es für die Betriebe keine Meldepflicht gibt.
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