Die Hansmann-Chronik
Menschen in Gliesmarode
Es scheint kaum Nachkommen zu geben von Familien, die schon vor Jahrhunderten in Gliesmarode wohnten. Die Familie des Landwirts Eggeling, KarI-Hintze-Weg 74, ist wohl am längsten in Gliesmarode ansässig. Zu ihren Vorfahren gehören die Brandes, die bis vor knapp 300 Jahren in Gliesmarode nachzuweisen sind (auf dem Lageplan von 1754 Nr. 3 Christian Brandes). Einige alte Urkunden befinden sich im Familienbesitz, darunter eine "Ehestiftung zwischen dem Kothsassen Johann Heinrich Elias Eggeling aus Gliesmarode und Ilse Catharine Dorothee Reinecke aus Thune" aus dem Jahr 1815. Darin wird der Braut Miteigentum am Hofe des Bräutigams für 17 Jahre zugesichert, danach könnte ein Sohn aus erster Ehe den Hof übernehmen. Als Altenteil bekommt die Ehefrau: freien Sitz in der Wohnstube und die Kammer über der Stube, eine Kuh bei der Krippe (d. h. sie mußte vom Hof gefüttert werden), jährlich 10 Himten Roggen, 5 Himten Gerste, einen halben Himten Leinsamen zum Aussäen, jährlich ein geschlachtetes Schwein, und 10 Ruten Kartoffelland, 2 Apfelbäume und 4 Zwetschgenbäume im Garten. Dagegen übergibt die Frau ihrem künftigen Mann 200 Taler und 30 Taler fur die Hochzeit, "Kisten und Kasten, Bette und Bettesgewand und ein Ehrenkleid, standesgemäß". Beachtlich ist auch der letzte Satz des Ehevertrages: "Zur Armenanstalt und Wegebesserung sind 8 gute Groschen legiert".
Alle anderen Familien, die in der Vorstellung der heutigen Gliesmaröder zum alten Dorf gehören, sind erst später in Gliesmarode zugezogen: Oppermann, Meier, Eggeling, Genter, Markworth, Spanuth, Kühn, Ahrens, Wiele und wie sie alle heißen. Die meisten Gliesmaröder sind erst durch die Siedlungen hierher gekommen. Schon vor dem ersten Weltkrieg wurde an der Berliner Straße gebaut, es entstand "Roxdorf" an der Berliner Straße hinter dem Messeweg und das schon zitierte "Himmelreich". Nach dem 1. Weltkrieg gab es regelrechte Siedlungswellen: 1922 die Wabetalsiedlung, dann der Messeweg und Hasselteich. Am 1.4.1934 wurde Gliesmarode in die Stadt Braunschweig eingemeindet und es wurde fleißig weiter gesiedelt. Es entstand die Fritz-Alpers-Siedlung (heute Friedensallee), der "Hitlerring" (am Sandkamp), die Kasernen an der Voigtländerstraße und vieles andere. Während und nach dem 2. Weltkrieg kam der Pappelberg dazu, in den Jahren des Wiederaufbaus die Carl-Zeiß-Straße, Max-Planck- und Einsteinstraße und in den letzten Jahren der Springkamp, Karl-Hintze-Weg, die Karl-Steinacker- und Paul-Jonas-Meier-Straße mit ihren Hochhäusern. Trotz aller Neubauten ist die Zahl der Einwohner leicht rückläufig, sie betrug am 31.12.1980 6.970. Nachdem zuerst aus dem kleinen Dorf ein Industriegebiet geworden war, ist es jetzt ein beliebtes Wohnviertel der Stadt Braunschweig. Das Wabetal, der Nußberg, die Riddagshäuser Teiche, die nahe Buchhorst und die Nähe des Stadtzentrums machen Gliesmarode für viele Wohnungssuchende interessant.
Bedeutende Persönlichkeiten haben in Gliesmarode ihr Zuhause gefunden. Ich nenne von den Wissenschaftlern das Dreigestirn der Ordinarien fur Elektrotechnik an der damaligen Technischen Hochschule: Prof. Unger mit seinen Forschungen und Patenten auf dem Gebiet des Elektromaschinenbaus, Prof. Pungs, der an der Entwicklung des Rundfunks beteiligt war (Hapug-Modulationsverfahren) und Prof. Marx, der Bedeutendes auf dem Gebiet der Hochspannungstechnik leistete (Marxscher Stoßgenerator). Alle drei waren lange Zeit Gliesmaroder Bürger, die mit vielen Auszeichnungen geehrt wurden. Zu den bekannten Einwohnern Gliesmarodes gehörten auch Künstler wie Johann Daniel Thulesius oder Kurt Edzard, der u. a. das Taufrelief in der Bugenhagenkirche geschaffen hat.
Schließlich sei an Ernst Bergfeld erinnert, dessen Dichtungen und Romane weit bekannt wurden ("Der immergrüne Garten"). Er baute 1922 sein Haus mit dem Namen "Sunnbore" an der Wabe. Er erzählt von damals:
Es gab noch längst nicht so viele Autos wie heute, und so hatten wir Siedler an der Wabe von der Endhaltestelle der Straßenbahn aus einen - ich möchte fast sagen: geruhsamen Spaziergang bis zu unserem Hause. Unsere Fahrbahn bestand zunächst nur aus einer einfachen, bald mit Schlaglöchern versehenen Straßendecke. Einen Fußweg gab es nicht. Vor unseren Häusern verlief ein mit Wasser gefüllter Graben, über den zu jedem Heim eine schmale Holzbrücke führte. In den hohen Pappeln am jenseitigen Ufer der Wabe hatten noch Bussarde ihren Horst. Ohne ein Gegenüber konnten wir zwischen den Uferbäumen hindurch weit hinaus bis nach dem Nußberg blicken.
Die Wiesen zwischen Wabe und Mittelriede waren im Frühling weiß von Margueriten. Zwischen vier und fünf Uhr morgens kamen viele Frauen aus der Stadt, um sie kiepenweise zu holen und an den Straßenecken zu verkaufen. Leider nahmen sie oft die Wurzeln mit, so daß die schöne Blume allmählich ausstarb.
In einem Gedicht gibt Ernst Bergfeld seine Eindrücke vom Blick aus dem Fenster wieder:
Im Hause oben liegt mein Arbeitszimmer.
Als ich heut' nachmittag trat still hinein,
lag auf den Büchern rings ein gold'ner Schimmer,
und auch die Bilder hatten hellen Schein.
Die Sonne, die im tiefen Westen stand,
umhüllte leuchtend einmal noch das Land.
Vorm Fenster ließ ich mich am Schreibtisch nieder.
Bevor ich schrieb, sah ich gelöst hinaus.
Ein Vogel putzte eifrig sein Gefieder
und flog dann jubilierend übers Haus.
Bald stand der erste Satz, den ich ersann,
und Zeile neben Zeile schloß sich an.
So ist es oft. Doch auch zu and'ren Zeiten,
da dunkle Wolken hoch am Himmel stehn,
blick' ich erst, Ruhe suchend, in die Weiten,
um dann gesammelt an mein Werk zu gehn.
Frei wird der Blick und mit ihm Herz und Sinn,
wenn ich in meinem Arbeitszimmer bin.
Für das Leben in Gliesmarode sind aber weniger einzelne Persönlichkeiten kennzeichnend als vielmehr die Vereine und alles, was dem Miteinander dient. Hier haben die Gastwirtschaften ihre Bedeutung, viele alte Gliesmaröder treffen sich im Gliesmaroder Turm. Da werden Familienfeste gefeiert, da treffen sich die Gesangvereine und der Schützenverein. Im Saal des Turms fand sogar Geräteturnen statt, ehe der Sportverein 1932 seine eigene Sporthalle baute. 1878 wurde der Männergesangverein Gliesmarode gegründet, der nach über 100 Jahren seines Bestehens unter seinem Vorsitzenden K H. Bode (Masurenweg 3) auch heute sehr aktiv ist und viele mit seinem Gesang erfreut.
Der zweitälteste Verein ist der Sportclub Einigkeit Gliesmarode von 1902, der heute über 1000 Mitglieder hat - das spricht schon für sich! (Vorsitzender Günter Czaja, Friedr.-Voigtländerstr. 47) An nächster Stelle ist der Schützenverein Gliesmarode von 1920 zu nennen, der das Leben in Gliesmarode maßgeblich mitprägt (Vors. Georg Petong, Lesumweg 5). Andere Vereine sind nicht weniger bedeutend, nur weil sie später gegründet wurden. Sie seien hier nur aufgezählt:
- Frauensingkreis Gliesmarode (Lucie Reckewell, Kurzekampstr. 10)
- Schachclub Gliesmarode (Peter Chmielnik, Essener Str. 21)
- Reichsbund Abt. Gliesmarode (Marg. Rieling, Berliner Str. 109)
- Seniorentagesstätte (Marg. Rieling u. Horst Buchtenkirch)
- F.C. Pappelberg (Karl-Heinz Söhlmann, Pappelberg 52)
- Siedlergemeinschaft Am Messeweg (Ernst Bothe, Im Schapenkamp 13)
- Siedlergemeinschaft Pappelberg (Heinz Päzold, Pappelberg 103)
- Gartenverein Soolanger (Eugen Schmidt, Wabestr. 11)
- G. V, Dammweg (Günter Klement, Meißenstr. 122)
- G.V. Himmelreich (Wolfgang Dronia, Eickhorstweg 4)
- G.V. Hohefeld (Kl.-Peter Schulze, Essener Str. 19)
- G.V. Im Holzmoore (Gerhard Hoffrichter, Abtstr. 17)
- G.V. Schapenkamp (Günter Frenzel, Ernst-Abbe-Weg 22)
- G.V. Nußberg (August Engelhardt, Hartgerstr. 6)
- Bundesbahn-Landwirtschaft Gliesmarode (Heino Martens, Karlstr. 9)
Dazu kommen eine Anzahl von Gruppierungen, die in der Kirchengemeinde tätig sind und in dem Abschnitt Bugenhagenkirche aufgeführt sind.
Eine ganz besondere Bedeutung für das öffentliche Leben haben die politischen Parteien. Die Eingemeindung Gliesmarodes stärkte allerdings nicht das Interesse an der Kommunalpolitik und die Gliesmaröder fühlten sich von der Stadt stiefmütterlich behandelt. In den letzten Jahren hat sich das Bewußtsein offenbar gewandelt. Bürgerinitiativen meldeten energisch ihre Interessen an, es fanden Bürgerversammlungen statt, die Komunalpolitik wurde wieder interessant. Die Stadt tat etwas für Gliesmarode z. B. Neubau der Schule, des Kindergartens und des Schwimmbades.
Zwei Parteien haben Ortsvereine in Gliesmarode. Jüngeren Datums ist der Ortsverein der CDU, die SPD dagegen kann auf eine über 75-jährige Geschichte zurückblicken.
Am 30.4.1905 wurde in einer Volksversammlung mit Heinrich Jasper die Gründung dieses Ortsvereins beschlossen, dem 29 Gliesmaröder beitraten. Im 3. Reich wurden SPD-Mitglieder verfolgt z. B. Herr Beese, der 1933 aus dem Voigtländerwerk herausgeholt wurde, durch die Berliner Straße getrieben und in der AOK und im Volksfreundehaus zusammengeschlagen wurde. Heute hat der Ortsverein 148 Mitglieder unter dem rührigen Manfred Reese, der u. a. auch das Fest zur 950-Jahrfeier organisiert hat.
Die Schattenseiten des 3. Reichs waren durchaus auch in Gliesmarode zu spüren. Da gab es nicht nur die eben erwähnten Schlägereien (an denen aber keine Nationalsozialisten aus Gliesmarode beteiligt waren), da durfte Herr Grünewald sein Textilgeschäft in der Berliner Straße nicht weiter führen, weil er jüdischer Abstammung war, und mußte verschwinden. Da gab es ein Schild an der Berliner Straße: "Juden betreten diesen Ort auf eigene Gefahr!". Oder der spätere Prof. Wilhelm Staats wurde vom Schuldienst suspendiert, weil er engagiertes SPD-Mitglied war. Doch fielen die Schattenseiten vielen nicht auf, sie sahen nur, daß viele Siedlungen gebaut wurden, die Arbeitslosigkeit zurückging, die Jugend begeistert wurde. Erst im Kriege, als viele Menschen auch aus Gliesmarode ihr Leben lassen mußten und viele Häuser auch in Gliesmarode zerbombt wurden, gingen manchen die Augen auf.
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